Kranker für Kranke * Besinnliches * Poesie *





* Alltag *
Grau verhangen ist der Tag.
Zwischen den unzähligen Hochhäusern hallen ihre Schritte.
Blitzartig dreht sie ihren Kopf nach hinten - folgt ihr jemand?
Zuweilen klingt das Echo gespenstisch, spielt der Widerhall ihr einen Streich?
Ihr ist kalt - in ihr macht sich eine beklemmende Angst breit - sie kennt dieses Gefühl Angst zu haben eigentlich gar nicht.
Warum heute - warum breitet sich dieses Gefühl Angst zu haben sich so intensiv in ihr aus.
Nun, es wird, es muss an diesem heutigen Tag liegen.
Nicht nur grau ist der heutige Tag sondern auch trübe.
Solche Tage stimmten sie schon von jeher unsicher und ängstlich.

Warum sind auch die Gehwege meistens nur mit grauen, harten, stupiden Steinpflaster belegt?
Ganz ungewohnt - menschenleer - sie allein auf diesem endlosen Weg, wo sonst viele Menschen hasten und eilen im ewigen Kampf mit der Zeit.
Fünf Minuten, zehn Minuten sind vergangen, sie gewöhnt sich langsam an den Widerhall der Schritte, sie gewöhnt sich an die Leere, die völlige Einsamkeit dieses Morgens, das gleichmäßige Klik-klak - klik - klak ihrer Sandalen.
Ihre Gedanken kreisen - wie ein Roulett.
Eigentlich doch ein herrlicher Morgen.
Es scheint fast eine Ewigkeit her, wo sie die ersten Stunden eines erwachenden Tages so wahrgenommen hat.
Meistens strebte sie interesselos morgens auf dem grauen Pflaster der U-Bahn entgegen, ohne den Morgen, den erwachenden Morgen zu genießen.
Alles liess sie an sich vorbei ziehen.
Nicht einmal bemerkte sie das Zwitschern der Vögel, die hier und da eifrig nach Regenwürmern auf der Wiese pickten.
Sie sah nur die U-Bahnlichter in der Entfernung - weiter nichts um sich - nicht die Menschen, nicht die Häuser, nicht den erwachenden Tag.

Klik - klak - klik - klak.
Heute ist sie aufgewacht, heute ist es anders, im Moment lässt sie ihren Blick über die kleinen Vorgärten der Hochhäuser, die mit viel Phantasie und Liebe angelegt sind gleiten.
Irgendwie verspürt sie gar eine Verzauberung in dieser frühen Stunde.
Welch Umkehrung hat sich in ihren Gedanken vollzogen, jetzt gerade in diesem Moment alles so intensiv wahrzunehmen, was um sie passiert.
Alles liegt noch verschlafen, verträumt da.
Nebelschleier hängen zwischen den Bäumen und Häusern.
Die Sträucher wirken vom Tau überzogen wie aus Filigran.
Sie atmet die neblige Luft ein - ja, atmen, träumen.
Klik - klak - klik - klak

Die Kirchturmuhr lässt - verschwommen durch den Nebel - die Zeiger erkennen, wie in einem Geisterfilm.
Wäre eine gute Kulisse für einen englischen Krimi.
Plötzlich hört sie das Bremsen der Räder in der Ferne - die U-Bahn fährt ein.
Mit jedem Schritt wird das Geräusch lauter - schriller - schon bald hat sie die Station erreicht.
Klik - klak - klik - klak

Sie wartet auf dem Bahnsteig.
Der nächste Zug lässt noch auf sich warten.
Gleichzeitig mit dem Blick zur Uhr entdeckt sie die Gestalt eines Besoffenen.
Er wankt an ihr vorbei, seine Augen irren glasig umher... er entblößt die vergilbten, stummeltaften Zähne - die Fahne hoch - der Versuch weiterzusingen erstickt in einem Lallen.
Er schleicht um die Abfallkörbe herum, durchstöbert sie nach etwas Trinkbarem, der Nachdurst lässt ihn wohl nicht zur Ruhe kommen.
Die Hose weist nasse Flecken an bestimmten Stellen auf - ihr ist, als sei sie in einer stinkenden Blase eingeschlossen.
Da, er hat eine Dose gefunden, setzt sie an den Mund, der kleine Rest läuft an dem zerfurchten Kinn zum Hals herunter, was er mit lautem Fluchen akzeptiert.

Sie weiß um die Wirkung des Alkohols - das Zugnichtemachen der Gefühle - der Gedanken - der Befehle für den Körper und Geist.
Er wankt weiter zum nächsten Abfallkorb.
Ein Ekel macht sich in ihr breit.
Diese unzähmbare Besessenheit zu suchen und immer wieder zu suchen, ist bemerkenswert.
Infolgedessen, dass kein Erfolg beim zweiten Abfallkorb zu verbuchen war, steuert er auf sie zu, lässt sich an ihre rechte Seite auf die Bank fallen.
Ein Zurückweichen ihrerseits hält ihn nicht ab, ihr auf noch unerträglichere Art näher zu kommen.
Als er seinen Mund aufmacht - und versucht etwas zu sagen - zieht wieder eine Alkoholfahne an ihr vorbei.
Der Geruch, den sein Körper verbreitet, ist von einer penetranten, perversen Ekelhaftigkeit.
Sie betrachtet ihn teils mit stummer Wut, teils mit Wehmut in ihrem Innern.
Dieser Mensch ist eine Kreatur Gottes.
Dieser Mensch findet Gefallen oder sucht Gefallen am Alkohol, dieser Mensch ist voll ausgerichtet darauf, seinen Körper zu ruinieren, bis dass der Suff Alpträume und weiße Mäuse in seinen zerrissenen Gedanken hervorruft oder er in das tiefe schwarze Loch fällt.

Wer wird ihn auffangen?
Wer wird ihn den Weg zeigen aus dieser Misere herauszukommen, wieder Mensch zu sein - eingegliedert werden in ein normales Leben?
Gibt es das noch für ihn?
Es ist ein ferngerückter Gedanke.
Worüber denkt er nach, kann er eigentlich noch denken?
Der Wunsch aufzustehen, fortzulaufen von hier - weit fort, um dies nicht mehr mit ansehen zu müssen - nimmt von ihr Besitz.
Doch der erste Versuch sich von der Bank zu erheben, scheitert, auch wenn die innere Stimme schreit fort - fort - fort von hier.
Eine Hand packt sie mit festem Griff, der Besoffene nimmt ihren verstörten fragenden Blick auf, während ein Tränenstrom langsam aus seinen rotumränderten Augen dringt.
Sekundenlang - für sie beängstigend hält sie dem Blick des Besoffenen stand.
Mit einem Ruck wendet er sich von ihrem Gesicht ab und starrt er gedankenverloren in die Gegend.
Und wieder kreisen ihre Gedanken, hämmert es in ihr, was bist du für ein Mensch - wodurch bist du so geworden, ist es ein Dauerzustand, ist es ein Ausflippen, ist es einfach die Gesellschaft, unsere Gesellschaft den Rücken kehren.
Warum ändert er den Prozess der Zerstörung nicht und sagt - ich lebe, ich will leben, ich muss erleben.

Mit einem Mal springt er auf, torkelt weiter, sie sieht ihm nach bis er in der Menschenmenge verschwunden ist.
Er hat ihr nicht in lallenden Worten gesagt - ich lebe, ich will leben, ich muss leben...---


* Copyright © by Witburg Daehling *
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Vorerst ist hier mal Schluss

Im Laufe des Jahres kommen immer noch weitere besinnliche Geschichten hinzu.
Eben als immer mal wieder bei Kranker für Kranke nachsehen.




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