Frührentner vor Gericht erfolgreich
Kassel - Ein weit reichendes Urteil hat das Bundessozialgericht gefällt: Die gesetzlichen Rentenversicherer sind nicht berechtigt, Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Geburtstag beginnen, um bis zu 10,8 Prozent zu reduzieren.
So sieht die Praxis derzeit noch aus: Beginnt eine Erwerbsminderungsrente vor dem 63. Geburtstag, wird sie um bestimmte Prozentsätze gekürzt - so wie es inzwischen bei fast allen vorzeitigen Altersrenten der Fall ist. Wird die Erwerbsminderungsrente mit 60 Jahren bezogen, werden 10,8 Prozent von der bis dahin erarbeiteten Rente abgezogen werden - und das lebenslang. Das sind immerhin noch 7,2 Prozent weniger als bei einem Altersrentenbeginn mit 60, für den keine Vertrauensschutzregelung beansprucht werden kann. Die Kürzungen bei den Erwerbsminderungsrenten wurden beschlossen, nachdem vor einigen Jahren die Abschläge bei den vorzeitigen Altersrenten eingeführt worden waren. Der Gesetzgeber befürchtete, dass die Versicherten wegen der Einbußen bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente vermehrt auf den Bezug einer Erwerbsminderungsrente ausweichen könnten.
Die gesetzlichen Rentenversicherer haben die Kürzungsregel weit ausgelegt und sie auch auf Frührenten angewandt, die vor dem 60. Geburtstag - der ersten Möglichkeit, die Altersrente abzurufen - beginnen. Hat eine Erwerbsminderungsrente beispielsweise mit 58 Jahren begonnen, so wurde bisher der maximale Kürzungssatz von l0,8 Prozent fällig. Entsprechendes gilt für diejenigen, die früher wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ihr Rentenkonto angezapft haben.
Das Unangenehme daran: Die Kürzung gilt lebenslang, also auch beim späteren Übergang in die Altersrente, der auf jeden Fall mit 65 Jahren ansteht. Das Bundessozialgericht hält die Auslegung der Rentenversicherer für "gesetz- und grundrechtswidrig" (AZ: B 4 RA 22/05 R). Der Gesetzgeber habe diese Möglichkeit mit keiner Silbe im Sozialgesetzbuch (SGB) verankert. Ein Paragraf (§ 77 Absatz 2 Satz 3 SGB VI) besage vielmehr ausdrücklich, "dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als vorzeitige Inanspruchnahme" gelte, die eine im Regelfall lebenslange Rentenkürzung rechtfertige. Entsprechendes sei auch nicht aus den Gesetzesmaterialien zu entnehmen.
Geklagt hatte eine 42-jährige Rentenversicherte, die auf Grund einer Übergangsregelung einen Rentenabschlag von 8,1 Prozent hinnehmen sollte. Das entspricht bei einem Rentenanspruch von 1.000 € monatlich 81 €. Das Gericht sprach der Frau rückwirkend ab 2003 die volle Erwerbsminderungsrente zu. Für Rentenantragsteller, deren Bescheide noch nicht bestandskräftig sind, dürfte dies ebenfalls gelten. Allerdings will die Deutsche Rentenversicherung Bund (früher: BfA), die in Kassel vor dem Bundessozialgericht beklagte Partei war, zunächst die Urteilsbegründung abwarten. Ob diejenigen Vorzeitigen, bei denen die einmonatige Einspruchsfrist gegen ihren Rentenbescheid (mit gekürzter Rentenzahlung) bereits abgelaufen ist, ebenfalls vom Urteil des Bundessozialgerichts profitieren können, ist eher unwahrscheinlich.
|